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Vom Kind gelernt

Größer denken

Der ZEIT-Korrespondent Thomas Kerstan ist oft gefangen im alltäglichen Klein-Klein. Seine Kinder hingegen stellen die großen Fragen der Menschheit

Text: Thomas Kerstan
Thomas Kerstan
Thomas Kerstan ist Bildungspolitischer Korrespondent der ZEIT

Nie werde ich vergessen, wie unser ältester Sohn – damals noch im Kindergartenalter – am Frühstückstisch sagte: »Ich möchte wissen, wie die ganze Welt funktioniert.« Kinder überraschen einen ja regelmäßig mit süßen, witzigen, etwas verrutschten Äußerungen. Meist tut man sie leicht ab. Kurz geschmunzelt und weiter geht’s. So hätte ich auch reagieren können. Aber auf mich wirkte der Satz wie ein Weckruf: Stell beim Nachdenken über die Welt wieder die großen Fragen! Sei mal wieder maßlos!

ZEIT Leo 8/2018 Von Kindern lernen: Größer denken
Illustration: Laura Junger

Als Erwachsener neigt man ja dazu, sich im Klein-Klein des Alltags zu verheddern. Man lernt beim Älterwerden zwar immer mehr von der Welt kennen: die Schönheit von Musikstücken, das Wunder des Lebens, den Reiz anderer Länder und den Lauf der Planeten. Aber man lernt auch, dass die Welt viel komplizierter ist, als man sie sich als Kind vorgestellt hat.
Außerdem fehlt einfach die Zeit, über Gott und die Welt nachzudenken. Der Beruf will gemeistert werden, und die Familie fordert ihr Recht. Auf welche Schule sollen die Kinder gehen? Wie wollen wir wohnen? Wohin fahren wir in Urlaub? Solche Fragen beherrschen den Alltag.

Kinder sind da beneidenswert unbeschwert. Für sie geht es sorglos ums Ganze. Nicht »Ich will hier raus!« sagte unser jüngster Sohn, als es ihm in seinem Kinderstuhl zu langweilig wurde, sondern: »Ich will die Welt sehen!«

Inzwischen zum Teenager geworden, überraschte er mich kürzlich mit der Frage, wozu wir eigentlich einen Staat brauchen, die Menschen könnten doch alles selber regeln. Für mich ist die Sache klar: Ohne Staat würden wir uns über kurz oder lang die Köpfe einschlagen. Wir brauchen Gesetze, Parlamente, Polizisten und Richter, um uns vor uns selber zu schützen. Mit einem Mal aber schien mir das gar nicht mehr so selbstverständlich. Ist eine friedliche Gesellschaft ohne Staat wirklich utopisch? Wie sind Staaten eigentlich entstanden? Gab es Alternativen dazu? Ich fand mich auf Wikipedia wieder, wo ich Artikel zum Thema las. Auch in den Texten von klassischen Philosophen begann ich zu stöbern.

Genau deshalb sind die Fragen unserer Kinder so erfrischend: Sie regen dazu an, das Gewohnte infrage zu stellen und über das Selbstverständliche noch einmal neu nachzudenken.

In jeder FAMILIENZEIT erzählen ZEIT-Redakteure, was sie von Kindern lernen.

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