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Vom Kind gelernt

Fünf gerade sein lassen

Der ZEIT-Redakteur Burkhard Straßmann hatte sehr feste Prinzipien. Die warfen seine Kinder über den Haufen

Text: Burkhard Straßmann
Burkhard Straßmann
Burkhard Straßmann ist Redakteur im Ressort Wissen der ZEIT

Jeder vernünftige Mensch weiß: Weißer Zucker ist des Teufels. Entsprechend reagierte ich, als ich meinen Sohn – da war er noch ein winziger Kerl – mit einem Paket Zucker entdeckte. Er war in einer nicht überwachten Sekunde über den Tisch gekrabbelt, hatte es umgekippt und war nun dabei, das süße Zeug in sich hinein zu schaufeln. Ich stürzte hin und entriss ihm die Beute. Dabei begegneten sich unsere Blicke. Und ich schwöre: Nie zuvor und niemals später habe ich so eine abgrundtiefe Enttäuschung gesehen. Im selben Moment war das Paradies entdeckt und vernichtet worden. Eine tiefe Scham befiel mich. Noch heute tut mir dieser Eingriff leid.

ZEIT Leo 5/2017 Von Kindern lernen: Fünf gerade sein lassen
Illustration: Laura Junger

Es liegt an meinen Kindern, dass viele überzeugungen, die ich im Lauf des Erwachsenwerdens erworben habe, wieder kollabiert sind. Ich pries abwechslungsreiche Kost mit einem hohen Anteil an Obst und Gemüse? Mein Sohn, inzwischen 26 Jahre alt, bewies mir, dass man auch durch die fast ausschließliche Ernährung mit Nudeln ein fitter, gesunder Typ werden kann. Meine Tochter, heute 16 Jahre alt, machte mir klar, dass sogar ein Besuch bei McDonald’s Spaß machen kann.

Die beiden haben mir vorgeführt, dass meine vehement vertretenen Meinungen ideologisch begründet sind. Und dass es nicht schadet, sie immer wieder einem Praxistest zu unterziehen – im Gegenteil: Was wäre mir ohne meine Kinder entgangen! Etwa jene grässlichen Mädchenbücher, die ich am liebsten heimlich entsorgt hätte. Sie entpuppten sich beim Vorlesen als Schlüssel zu einer mir bis dahin verborgenen Welt. Oder der Sehnsuchtsort meiner Tochter: Mallorca! »Türkisenes Wasser«! Das Mädchen bevorzugt grundsätzlich Reiseziele, welche die Massen lieben. Was mir als ein Spießerspaß erschien, machte ihr einfach Freude. Ich gab nach – und stellte fest: Das Mädchen hat recht. Die Massen irren nicht. Jedenfalls nicht immer.

Nur in einem Punkt hielt ich dagegen. Beim Fußball. Als mein Sohn klein war, musste ich manchmal mit ins Stadion gehen. Ich saß da zwischen Tausenden, die plötzlich jubelnd aufsprangen und ihre Arme in die Luft rissen. Ich sollte dann auch aufstehen und die Arme in die Luft strecken. Das fand ich ziemlich albern. Und irgendwie nazimäßig. Ich blieb sitzen.

In jeder FAMILIENZEIT erzählen ZEIT-Redakteure, was sie von Kindern lernen.

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