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Vom Kind gelernt

Durchhalten

Früher brachte die ZEIT-Redakteurin Jeannette Otto ihre Töchter über jeden Berg. Inzwischen ist es umgekehrt

Text: Jeannette Otto
Jeannette Otto
Jeannette Otto ist Redakteurin im Ressort Chancen der ZEIT

Wann sind wir da?« Es war doch erst gestern, dass mich diese Frage traf, beim Autofahren, Spazierengehen oder auf der Bergtour. Jahrelang gab es keine Alternative zum Durchhalten. Wie sonst hätte ich mit zwei kleinen Kindern je ankommen sollen? Egal, wie verschwitzt, hungrig oder müde ich war – für meine Töchter war ich ein nicht aufzuhaltendes Energiebündel, das immer noch ein Gummibärchen aus der Tasche zog, ein Lied anstimmte, ein Versprechen gab: Oben auf der Hütte – Nudelsuppe, Zitronenlimo, Eis! 

ZEIT Leo 6/2017 Von Kindern lernen: Durchhalten
Illustration: Laura Junger

Dass wir irgendwann die Rollen getauscht haben, merkte ich im Frühling auf dem Fahrrad. Tag drei einer Familientour, 180 Kilometer in den Beinen, 80 waren noch übrig. Meine jüngere Tochter, 13, Fußballspielerin, fuhr vorneweg. Sie war schnell – zu schnell für mich. Sie schwitzte nicht, ihre Haare klebten nicht, ihre Waden schmerzten nicht. An der Stadtgrenze von Hamburg schrie ich gegen den Wind das Unmögliche hinaus: »Können wir nicht die S-Bahn nehmen?« Meine Tochter bremste hart. Entsetzter, enttäuschter, wütender Blick: Wir hatten doch gesagt, wir fahren bis vor die Haustür! Hatten wir. Aber ich konnte nicht mehr. Es regnete, ich tropfte, fluchte, ließ mich zurückfallen. Irgendwo da vorne sah ich noch die roten Punkte der Radtaschen, mit denen mir der Rest meiner Familie davonfuhr. Dann kam meine Tochter zurück zu mir, sagte: »Toll, Mami!«, legte ihre Hand auf meinen Rücken, schob mich vorwärts und fragte, was wir singen wollen. Singen? Okay, das hatte sie sich also gemerkt.

Wir sangen When We Were Young von Adele. Irgendwann waren wir da. Nach dieser Tour nahm ich mir vor, wieder die Durchhalterin zu werden, die ich mal war. Doch auf einer Hüttenwanderung in den Alpen, die uns ein paar Monate später auf fast 3000 Meter Höhe durch knietiefen Schnee führte, verlor ich irgendwo im eisigen Nebel die Motivation. Aber ich fluchte wirklich nur ein bisschen, während ich an meinem Proteinriegel nagte und mein Kind mit den anderen aus der Gruppe den Weg suchte. Als es danach zu mir kam und fragte: »Essen wir Nudelsuppe, wenn wir in der Hütte sind?«, nickte ich verlegen und dachte: Ist eigentlich egal, wer wen aufbaut – Hauptsache, wir kommen immer wieder gemeinsam an.

In jeder FAMILIENZEIT erzählen ZEIT-Redakteure, was sie von Kindern lernen.

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